Ein Kommentar auf der Mitgliederversammlung 2025
"Zunächst einmal möchte ich betonen, dass es mich sehr freut, dass die GGG ein solches Papier vorlegt und damit die Vision der 'Einen Schule für alle' wieder offensiv auf die Agena hebt. ...
Download des vollständigen Kommentars Das Positionspapier im Wortlaut
Ich bin gebeten worden, das Papier zu kommentieren und komme dieser Bitte gerne nach. Ich werde in den 15 Minuten, die ich habe, nicht so sehr auf die einzelnen Punkte des Papiers eingehen, die ich durchweg mit großer Zustimmung gelesen habe. Es ist aus meiner Sicht ein gelungenes Papier, das sich in den zentralen Fragen – mit Blick auf die Weiterentwicklung der Schulstruktur und darüber hinaus – aus meiner Sicht überzeugend und in weiten Teilen auch in Einklang mit einschlägigen Forschungsbefunden positioniert.
Ich möchte im Folgenden weniger auf die einzelnen Argumentationslinien und Vorschläge des Papiers eingehen, einige Punkte auf einer eher übergeordneten Ebene ansprechen, die mir für die weitere Diskussion und Strategieentwicklung besonders bedeutsam erscheinen.
Der erste Punkt betrifft die sozialen und schulorganisatorischen Realitäten, unter denen man in den kommenden Jahren und wahrscheinlich Jahrzehnten an diesem Projekt arbeiten wird.
Das Dilemma mit der Zweigliedrigkeit
Ich denke, dass das, was das Positionspapier beschreibt, selbst wenn es in weiten Teilen gelingt, wahrscheinlich nicht den Weg zu „Einer Schule für Alle“ im Sinne einer systemischen Alternative ebnen wird.
Unter den gegebenen gesellschaftlichen und bildungspolitischen Bedingungen ist meine Erwartung eher, dass die Krisenerscheinungen, die das Papier sehr richtig beschreibt, uns mittelfristig in allen Ländern in die horizontale Zweigliedrigkeit führen werden, also in ein System aus Gymnasium und einer gesamtschulartigen Schulform, die alle Schüler:innen aufnimmt, die nach der Grundschule nicht aufs Gymnasium gehen. Ob ein solches System dann Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Schule für alle sein wird oder sich seinerseits auf Jahrzehnte verfestigt, wird heute kaum jemand zu prognostizieren wagen. Im Lichte der Geschichte würde ich persönlich auf Verfestigung wetten.
Das führt uns in ein Dilemma, das in der GEW und vermutlich auch in der GGG durchaus kontrovers diskutiert worden ist: In einem zweigliedrigen System werden die integrierten Schulformen die Schülerschaft der Real- und vor allem der Hauptschulen vollständig übernehmen. In Ländern mit einer „ausdifferenzierten“ Schulstruktur haben Schulen des gemeinsamen Lernens zumindest ein Stück weit noch die Möglichkeit, ihre Schülerschaft so auszuwählen, dass ein relativ breites Leistungsspektrum vertreten ist. In einem zweigliedrigen System ist an integrierten Schulformen – oder jedenfalls an einem erheblichen Anteil von ihnen – hingegen eine soziale Zusammensetzung zu erwarten, die immense Herausforderungen für die pädagogische Arbeit mit sich bringt.
Risiko der Überforderung der zweiten Säule
Um es klar zu sagen: Das birgt Risiken. Das haben wir in Bezug auf das Thema Inklusion in den vergangenen Jahren sehr deutlich vor Augen geführt bekommen: So unzweifelhaft richtig Inklusion in der Sache ist – ihre Umsetzung in der Praxis war defizitär und hat vielerorts zu massiver Überforderung geführt. Im Ergebnis ist die Wahrnehmung heute: Inklusion funktioniert nicht – das politische Projekt ist quasi diskreditiert.
In ähnlicher Weise birgt die flächendeckende Umwandlung von Haupt- und Realschulen zu „Schulen des gemeinsamen Lernens“ Risiken für das politische Projekt der „Einen Schulen für alle“: Die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die sich in der pädagogischen Praxis aller Wahrscheinlichkeit nach stellen werden, wird man – zumal auf der konservativen Seite – nur allzu bereitwillig der Idee anlasten. Frei nach dem Motto: Haben wir doch immer gesagt, „Gemeinsames Lernen“ funktioniert nicht, jetzt haben wir den Beweis.
… und trotzdem richtig!
Trotzdem halte ich es für richtig, dass sich die GGG zu einem solchen Kurs bekennt. Denn ein defensiver Kurs, der auf den Erhalt einer kleineren Zahl relativ gut funktionierender Gesamtschulen ausgelegt ist, mag die „Reputation der Gesamtschule“ schützen. Er tut dies aber letztlich auf Kosten der bildungsbenachteiligten Schüler:innen, die im selektiven System gefangen bleiben. Es sagt gewissermaßen: Wir sehen eure Not, aber wir können nichts für euch tun – wir müssen uns um uns selbst kümmern.
Ich finde: Eine solche Haltung steht der GGG (und auch der GEW) nicht gut an. Ich bin entschieden der Meinung, dass man sich als progressiver Verband offensiv zur Verantwortung für die benachteiligten Schüler bekennen sollte – auch wenn das ohne Zweifel große Herausforderungen bedeutet. Dann wird man sich lösen müssen von der Vorstellung, dass man eine einigermaßen ausgewogene soziale Durchmischung der Schülerschaft braucht. So wünschenswert das ist – es wird an vielen Schulstandorten nicht so sein: Umso größer das Dach der Gesamtschule wird, umso deutlicher wird sich die soziale Segregation in ihnen manifestieren. Das sehen wir in den schon heute zweigliedrigen Systemen: Die entscheidende Frage, der man sich mit aller Energie wird stellen müssen, lautet daher aus meiner Sicht: Wie kann es gelingen, in der Tradition der Gesamtschule auch dann pädagogisch erfolgreich zu arbeiten, wenn man es mit einer hohen Konzentration benachteiligter Schüler zu tun hat? Das ist die Gretchen-Frage.
Schul- und Unterrichtsentwicklung
Es ist aus meiner Sicht deshalb nur konsequent und sehr zu begrüßen, dass das Positionspapier die „Schulstrukturfragen“ unmittelbar mit Positionen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung verbindet.
Auch hier kann ich allen genannten Punkten nur emphatisch zustimmen – ich möchte an dieser Stelle aber zwei Punkte besonders unterstreichen, weil ich in ihnen besonderes Potenzial für die Organisation systemweiter Lernprozesse sehe. Beides hat übrigens auch im Startchancen-Programm einen zentralen Stellenwert.
Das eine ist das Thema „Datengestützte Schul- und Unterrichtsentwicklung“. Ich finde es gut und mit Blick auf die Stimmung an der Basis auch mutig, dass sich die GGG hierzu so entschieden bekennt, obwohl in der administrativen Praxis der vergangenen Jahrzehnte – durch die einseitige Nutzung von Daten zu Monitoringzwecken – so viel Vertrauen verspielt worden ist. Ich habe aus meiner Arbeit mit den Bildungsadministrationen im Rahmen des Startchancen-Programms den sehr deutlichen Eindruck, dass man zunehmend verstanden hat, dass die Praxis des Arbeitens mit Daten bisher nur in den seltensten Fällen wirklich zum Nutzen der Schüler und der Schulentwicklung gewesen ist, und man da auch administrationsseitig vieles verändern muss.
Im Positionspapier steht:
"Diagnostische Verfahren und Sozialstrukturdaten, die der Ermittlung von Lernverläufen und daraus zu entwickelnden Unterstützungsbedarfen von Schüler:innen oder Schulen dienen, sind ein entscheidendes Werkzeug für die Entwicklung von Schulen und Unterricht im 21. Jahrhundert."
Ich finde das absolut richtig – nicht nur, weil es ganz klar im Einklang mit Befunden der Schulentwicklungsforschung steht, sondern auch, weil ich das Glück habe, dass meine eigene Tochter an einer Schule lernt, die genau das zeigt: Eine konsequente, datengestützte Diagnostik zum Zweck der individuellen Förderung und passgenauen kompensatorischen Unterstützung ist – wenn es einmal gelungen ist, das in der Schule wirklich zu verankern – Gold wert. Für die Schüler, aber auch für die Praxis der Schulentwicklung.
Ich möchte hinzufügen, dass die konsequente Nutzung von Daten zum Zweck der Reflektion, Evaluation und Planung des eigenen Handelns, auch auf Ebene der Bildungsadministrationen und der intermediären Unterstützungssysteme von herausragender Bedeutung ist. Nicht um des Monitorings willen, sondern im Sinne dessen, was im Positionspapier ebenfalls anklingt:
Der Wunsch nach einer „veränderten Rolle der Schulaufsicht und Administration hin zu einer stärker beratenden und unterstützenden Instanz“. Sinn und Zweck einer konsequenten Datenorientierung ist nicht Kontrolle, sondern bessere Steuerung und Unterstützung. Das bedeutet, dass die Schulen, aber genauso auch Schulaufsicht, Administration und unterstützende Institutionen befähigt werden müssen, Daten zu nutzen, um Stärken und Entwicklungsbedarfe zu erkennen und daraus gezielt Maßnahmen abzuleiten – und deren Wirkung zu überprüfen. Und das Wort Daten möchte ich hier im breitesten Sinne verstanden wissen: als jedwede belastbare Information über die schulische Realität. Ja, das beinhaltet Leistungsdaten, aber auch ganz viel anderes, z. B. Sozialdaten des Einzugsgebiets, Ergebnisse von Schüler-, Eltern oder Lehrkräftebefragungen, Schulinspektionsberichte u.a.m.
Unterstreichen möchte ich hier auch das Thema der „Lernende Netzwerke“ – und zwar im umfassendsten Sinne. Wir müssen endlich weg vom Einzelkämpfertum, hin zu einem System professioneller Lerngemeinschaften, das einen verlässlichen Rahmen für den Austausch von Wissen, Erfahrungen, Konzepten und Materialien zwischen Schulen sicherstellt, die unter ähnlichen Bedingungen arbeiten. Ja, die Beteiligung an Netzwerken kostet Personalressource. Aber mittel- bis langfristig können sie auch ressourcensparend wirken, wenn man wirklich voneinander lernen kann und nicht an jeder Schule alles immer „from scratch“ entwickelt werden muss.
Und Netzwerke sind nicht nur ein Instrument für den Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen Schulen, sondern können auch als themenzentrierte Qualifizierungs- und Fortbildungsformate organisiert werden – mit dem Ziel etwa der Verankerung von Praktiken der datengestützten Schulentwicklung oder zur Dissemination von Instrumenten und Ansätzen der Sozialraumorientierung.
Das ist übrigens ein Thema, das mir im Papier fehlt: Die Öffnung der Schule in den Sozialraum, als ein Instrument, das Schulentwicklung und community organizing miteinander verschränkt. Ich glaube, dass das gerade Schulen in schwieriger sozialer Lage, in Verbindung mit dem Thema Ganztag, ein ganz wichtiger Hebel für die Schulentwicklung sein kann. Auch das übrigens kann man netzwerkförmig denken, im Sinne von lokalen Bildungsnetzwerken, die Kitas, Schulen und andere bildungsrelevante Akteure (auch der Zivilgesellschaft), aber auch die Kinder- und Jugendhilfe im Sozialraum in einen festen Planungs- und Kooperationszusammenhang bringen.
Ziele sind wichtig, aber nichts ohne konkrete Strategie
Last but not least: Klare inhaltliche Positionierungen im Sinne von gemeinsamen, konsentierten Zielvorstellungen sind gut und wichtig. Sie sind gewissermaßen der Nordstern für die Navigation. Aber ein Positionspapier wie das hier vorliegende kann natürlich nur der Anfang sein. Ich sage mal ein bisschen böse: Die Annalen der Schulgeschichte sind voll von visionären Papieren, die in der Realität aber wirkungslos verpufft sind.
Es braucht eine konkrete Routenplanung, und zwar eine, die nüchtern und analytisch am Status Quo ansetzt und fragt: Wie kommen wir von A nach B? Was ist als pragmatisches Zwischenziel unter welchen Bedingungen konkret erreichbar? Welche Handlungsfelder sollten priorisiert werden und welche quick wins lassen sich erzielen, um Motivation und Handlungsbereitschaft der Beteiligten aufrechtzuerhalten? Welche strategischen Hebel stehen zur Verfügung? Welche rechtlichen Hürden oder Unsicherheiten sind zu nehmen? Und vor allem: Welche bildungspolitischen Allianzen lassen sich schmieden?
Ich weiß, dieser Strategieprozess steht bei Ihnen nun als nächstes an, und nicht nur bei Ihnen, sondern auch in der GEW. Und natürlich ist richtig, was das Papier in der Präambel festhält: „Wie man an die Sache herangeht, hängt von den Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern und den jeweils betroffenen Schulen ab“. Letztlich werden Sie also ausgehend vom vorliegenden Papier bundesländerbezogene Handlungsstrategien entwickeln müssen. Auf diesen Prozess und die damit verbundenen Diskussionen bin ich sehr gespannt – und würde mich freuen, wenn Sie auch hierzu wieder den Austausch suchen.
Der Autor
Dr. Benjamin Edelstein,
wissenschaftlicher Referent des Governance-Zentrums im CHANCEN-Verbund am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung &
wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe „Recht und Steuerung im Kontext sozialer Ungleichheiten“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)
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